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Im Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Arlt, China Outbound Tourism Research Institute (COTRI) - Teil 1

Online-Marketing 8 Minuten
Nur fünf Prozent der Gesamtbevölkerung Chinas, die Oberschicht, können potentiell nach Europa reisen. Das stellt mit 70-80 Millionen Menschen allerdings ein riesiges Marktpotential dar.
Prof. Dr. Wolfgang Arlt ist Gründer und Direktor von COTRI, dem Marktführer für Marktstudien, Produkt- und Strategieentwicklung der chinesischen Tourismusbranche. Das Institut bietet neben Consulting und Datenanalyse spezielle Trainings für die Tourismus- und Destinationsbranche. Zudem ist Arlt Professor an der FH Westküste/Studiengang International Tourism Management und Tutor für Abschlussarbeiten mehrerer Universitäten in Deutschland, Großbritannien und Spanien. Seine Leidenschaft für China entwickelte und intensivierte sich im Laufe seiner Studien an den Universitäten von Taiwan und Hong Kong sowie seiner Tätigkeit als Reiseveranstalter. 
Prof. Arlt, laut COTRI gab es im Jahr 2018 162 Millionen Grenzüberschreitungen seitens Chinesen. Wir halten fest: die Chinesen lieben das Reisen?

Diese Zahl beläuft sich insgesamt auf Grenzübertritte seitens Festland-Chinesen und beinhaltet zudem mehrfach Reisende oder Personen, die in Hong Kong, Macau oder Taiwan arbeiten und daher die Grenze öfter im Jahr passieren. Sie können diese Zahl ungefähr halbieren um effektive Auslandsreisen festzumachen. Stellen Sie sich vor: Im Jahr 2000 gab es “lediglich” 10 Mio. Grenzübertritte, vor ein paar Jahre noch an die 100, erst in diesem Jahrzehnt hat die Zahl stark zugenommen. Früher hat man als Chinese sechs Monate auf einen Pass gewartet, heute erhält jeder Chinese, der einen Pass haben möchte, diesen umgehend. Trotzdem besitzen nur 10% der Chinesen einen, die restlichen 90% haben keinen, weil schlichtweg die finanziellen Mittel fehlen um ins Ausland zu reisen. China steht allgemein betrachtet besser da als etwa Indien was Basisversorgungen betrifft wie Wohnen, Essen, Strom, Schulbildung, Gesundheit, aber die meisten Menschen können sich nicht einmal eine Reise nach Shanghai leisten. 
Das heißt, nur diese 10% der chinesischen Bevölkerung kommen als Gäste zu uns nach Europa?

Wenn wir von chinesischen Auslandsreisenden sprechen, dann sprechen wir über die Top-Zehn-Prozent der Gesellschaft was immerhin 150 Millionen Menschen entspricht. Circa die Hälfte davon kann sich eine Auslandsreise außerhalb Asiens leisten. Ich korrigiere somit Ihre Frage: Fünf Prozent der Gesamtbevölkerung Chinas könnten potentiell nach Europa reisen, das stellt mit konkret 70-80 MIllionen Menschen einen riesigen Markt dar. Wir dürfen nicht vergessen: die chinesischen Gäste, die zu uns kommen, bilden klar die Oberschicht und nicht die Mittelschicht!
Ich habe nun folgendes Bild vor mir: München, Sendlinger Tor, ein Reisebus hält und 50 Chinesen mit Fotokameras bewaffnet steigen aus denselben. Das soll die chinesische Oberschicht sein?

Das ist der Punkt: Das sind die Chinesen, die Sie wahrnehmen und die sehr sichtbar sind. Diese Personen verhalten sich genau so, wie Sie es erwarten, dass chinesische Gäste sich verhalten und entsprechen dem unteren Teil der reisenden Oberschicht. Chinesen, die in Großstädten leben, im Ausland studiert haben, englisch sprechen, reisen bereits seit Jahren nicht mehr in solchen Gruppen sondern individuell und diese Reisenden nehmen sie gar nicht wahr. Je nach Besuchsland splitten sich die Gäste in etwas 50% Gruppenreisende und 50% Individualreisende. Meistens handelt es sich um Erstbesucher, die in acht Tagen sieben Länder bereisen. Die Tendenz geht eindeutig zum Einzelreisenden: das sind meist immer noch kleinere Gruppen von fünf bis acht Personen. Eine chinesische Familie (2 Erwachsene, 1 Kind) verreisen entweder mit einer anderen Familie oder es verreisen mehrere Generationen zusammen. Die klassischen Package-Touren gibt es zwar noch, diese werden inzwischen von Leuten aus drittklassigen Städten (sprich acht Millionen Einwohner oder weniger) gebucht.
Die organisierte Busreise scheint die sicherere Variante zu sein, ich versetze mich gerade in deren Lage mit unbekannter Sprache und unbekannter Kultur...

Und Sie würden den gleichen Fehler machen: Sie würden sich gern China ansehen wollen! Das habe ich selbst als Reiseveranstalter vieler Chinareisen erlebt und meinen Gästen klar gemacht: China ist so groß wie Europa, man kann sinnvoller Weise während einer Reise nicht Peking, Shanghai und Kanton ansehen. Dasselbe umgekehrt: für Chinesen ist China auf der Weltkarte in der Mitte und Europa links oben in der Ecke. Erstbesucher haken meist ihre Liste ab, Chinesen mit Reiseerfahrung werden mehrere Tag ein einem Land verweilen und sich eher auf Aktivitäten wie Skifahren oder Fotografieren konzentrieren.
Ein Reisemotiv überstrahlt alle anderen: die soziale Statusgewinnung, lapidar gesagt: "Angeben".
Welche Reisemotive herrschen denn beim chinesischen Gast vor?
  
Grob gefasst gibt es erstens Geschäftsreisende: viele Chinesen haben in Europa investiert, treiben Handel und der Messetourismus spielt eine Rolle. Bei den Freizeit-Touristen überstrahlt ein Motiv alle anderen: die soziale Statusgewinnung, lapidar gesagt “Angeben”. Der Reisende möchte seinen Freunden zeigen: Sieh her, mein Selfie, “ich/dort”. Früher entsprach “dort” vor Sehenswürdigkeiten wie dem Eiffelturm, heute ist das in gehobenen Kreisen nicht mehr spannend, das “dort” muss schon etwas Besonderes haben. Die Erstreise nach Italien führt nach Venezia- Firenze- Milano- Roma. Bei der zweiten Reise aber spielen Aktivitäten eine Rolle und hier müsste das italienische Marketing einsetzen mit Aussagen wie “Es gibt noch mehr in italien, da sind beispielsweise die Regionen Südtirol/Alto Adige oder Friaul, die wunderbar geeignet sind zum Wine Tasting, Fahrrad fahren oder Skifahren und der nächstgelegene Flughafen dazu ist Verona.” 
Spielen weitere Motive eine Rolle?

Das zweite Motiv: Dinge mit eigenen Augen zu sehen. Die Chinesen haben eine klare Vorstellung davon, dass das, was sie in den Fernsehnachrichten sehen und das, was ihnen die internationalen Tourismusorganisationen zeigen, Propaganda ist...
Hier muss ich einhaken: Ist das tatsächlich so?

Absolut, Chinesen haben eine klare Idee davon, dass alle Nachrichten produziert werden und dass die Nachrichtenproduktion Geld kostet. Sie sind medienkritischer als wir und möchten selbst überprüfen, ob Italien tatsächlich das schönste Land der Welt ist wie es die italienische Tourismusorganisation verspricht.
Chinesische Touristen sind gleichzeitig Botschafter ihres Landes und sind sich ihrer Marktmacht sehr bewusst. Deshalb geben sie vor Ort viel Geld aus: sie wollen auf keinen Fall als arm oder geizig wahrgenommen werden.
Gibt es noch mehr Motive, die ausschlaggebend für eine Reise sind?

Als drittes Motiv würde ich die Selbstvergewisserung, dass man es geschafft hat,festhalten. Die Leute können sich das Reisen leisten, als Person aber auch als Chinesen. Das ist ein wichtiger Punkt: die Regierung sagt, chinesische Touristen sind gleichzeitig Botschafter ihres Landes und ein Beweis dafür, dass sich China jetzt am Drücker ist. Chinesen haben selbst Geld in der Tasche und sind sich ihrer Marktmacht sehr bewusst. Sie sind auf das Reisen sehr stolz: Das führt dazu, dass sie sehr darauf bedacht sind, wie man mit ihnen umgeht. Mir als deutschem Gast ist es völlig egal, ob vor meinem Hotel eine deutsche Fahne weht. Den allermeisten Chinesen ist das wichtig, sie achten darauf. Oder ein anderes Beispiel: auch wenn der Chinese der englischen Sprache mächtig ist, findet er es gut, wenn eine Broschüre in chinesisch aufliegt, einfach als Respektbezeugung. Ich war vor kurzem auf dem Flughafen in Kuala Lumpur, dort werden die Durchsagen in Landessprache, als zweites in Chinesisch und erst dann in Englisch gemacht. Neben mir standen Chinesen, die sofort reagierten und zueinander sagten: “Hast du gehört, zuerst Chinesisch, dann erst Englisch! Wunderbar!” Zusammenfassend ist das Motiv “Der Welt zeigen, ich als Chinese kann mir das leisten”. Deshalb geben die Chinesen hier vor Ort viel Geld aus: sie wollen auf gar keine Fall als arm oder geizig wahrgenommen werden.
Sind für den chinesischen Reisenden auch Motive wie “Kultur und kulturelle Fortbildung” relevant?

Absolut, unser europäischer Mangel an Wissen über China ist nicht gleichzusetzen mit dem Mangel an Wissen der Chinesen über Europa. Ein chinesischer Abiturient kennt Shakespeare, Bach und Beethoven, Napoleon, die Beatles und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Viele Chinesen definieren sich über ihr Hobby: “Ich bin zwar in der Verwaltung tätig, aber eigentlich bin ich Hobbyfotograf und mein Leben kreist um Naturfotografie/klassische Musik/Architektur im Bauhaus-Stil/Flamenco.” Dazu ein Beispiel: Es gibt 30 Flamencoschulen in China. 90 Prozent der Chinesen haben wahrscheinlich noch nie etwas von Flamenco gehört, 99,9 Prozent der Chinesen stehen dem Tanz gleichgültig gegenüber. Aber bedenken Sie: diese restlichen 0,1 Prozent sind noch immer 2 Millionen Menschen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der Flamenco lernt, Geld genug hat nach Europa zu reisen, ist groß. 
Es geht um kurze, intensive Erlebnisse. Chinesen wollen viele Reiseerfahrungen machen, aber keine Zeit dabei verschwenden.
Das Tourismusmarketing müsste somit diese Motive konkret aufgreifen?
 
Genau, das wir derzeit noch vernachlässigt. Eine spezielle Aktivität, die mir gerade einfällt wenn ich an die Alpen denke, sind Ferien auf dem Bauernhof für Eltern mit Kindern. Ein Kind, das in Shanghai aufwächst, hat noch nie eine Kuh gesehen. Man möchte den Kindern zeigen, woher Lebensmittel kommen und wieviel Mühe es macht, diese zu erzeugen. Allerdings wird der chinesische Aufenthalt auf dem Bauernhof maximal zwei Nächte dauern, wohl eher eine Nacht. Es geht um kurze, intensive Erlebnisse. Ein Bekannter, der einen Bauernhof in der Nähe von Hallstatt bewirtschaftet, das von vielen Chinesen besichtigt wird hat mir von folgendem Ablauf des Besuchs einer chinesischen Familie erzählt: Ankunft um 15:00 Uhr, Fotografieren bis zum typischen regionalen Abendessen um 18:00 Uhr, original lokales Frühstück um 5:30 und Abfahrt. Somit war “Urlaub am Bauernhof” erledigt. Die First Generation Rich arbeiten hart, 15 Stunden täglich, oft sieben Tage die Woche und haben dabei vielleicht zehn Tage Urlaub im Jahr oder gar keinen bezahlten Urlaub. Chinesen wollen viele Reiseerfahrungen machen, aber keine Zeit dabei verschwenden.  
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