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Im Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Arlt, Direktor & Gründer von COTRI - Teil 2

Online-Marketing 9 Minuten
Eine Destination muss auf den chinesischen Gast vorbereitet sein und etwas anbieten, damit dieser sein Geld in kürzester Zeit ausgeben kann.
Im ersten Teil des Gesprächs mit Prof. Dr. Wolfgang Arlt (Gründer und Direktor von COTRI, dem Marktführer für Marktstudien, Produkt- und Strategieentwicklung der chinesischen Tourismusbranche) gab es einen Einblick in die chinesische Reisekultur sowie in die Reisemotive der chinesischen Gäste. Im zweiten Teil stehen Potentiale und Herausforderungen, die Thematik Digitalisierung sowie die Erschließung des chinesischen Reisemarktes im Fokus.
Welche Potentiale und Herausforderungen birgt der chinesische Reisegast für den Alpenraum und generell für Europa?

Im Gegensatz zur Zeit der Institutsgründung vor 15 Jahren glaubt mittlerweile jeder, dass China einen wichtigen Quellmarkt darstellt. Die Herausforderung besteht darin zu verstehen, dass es bei 80 Millionen Reisenden nicht eine Sorte Gast gibt. Auf die Frage “Möchte der Chinese chinesisches Essen oder lieber europäisches Essen?” lautet die Antwort immer dieselbe: “Kommt drauf an.” Handelt es sich um einen reichen Bauern, der sich einmal im Leben eine Europareise gönnt? Dieser möchte wahrscheinlich europäisches Essen probieren, aber grundsätzlich chinesisches Essen essen. Vor allem, weil er Angst hat, von europäischen Essen bekäme er Magenbeschwerden und kann seine Reise nicht fortsetzen. Jemand, der das erste Mal aus China rauskommt und kein Englisch spricht hat völlig andere Bedürfnisse als jemand, der fünf Jahre in Harvard studiert hat und in einer internationalen Firma tätig ist. Die Unterschiede sind in China schlichtweg geografisch bedingt: jemand, der in Peking wohnt, wo norddeutsches Wetter herrscht, freut sich über Sonnenschein und milde Temperaturen im Winter. Jemand aus Kanton im Süden mit vielen Sonnenstrahlen ist hingegen definitiv kein sunseeker. 
Und: Chinesen wollen möglichst viele Erfahrungen und Erlebnisse sammeln, am besten “living like the locals” in möglichst kurzer Zeit: eine Schlittenfahrt in 20 Minuten durch den Wald mit Drohnenfoto, Jodelkurs mit Diplom in zwei Stunden... Die Gäste, die nach Europa kommen, sind bereit, Geld auszugeben, haben aber keine Zeit! 
Wir halten somit aus dem bisherigen Gespräch fest: es gibt nicht “den” Chinesen und “den chinesischen Gast”.

Einerseits nicht aufgrund der geografischen Begebenheiten: Die Leute im Norden und im Süden sind so unterschiedlich wie es eben ein Norweger und ein Portugiese sind. Andererseits gibt es den stereotypen Reisenden immer weniger, je mehr Erfahrung die Menschen haben. Erst nachdem sie es selbst ausprobiert haben, können sie feststellen ob sie eher der Typ 5-Sterne-Luxus-Kettenhotel oder ein typisch regionales Hotel oder ein Bed&Breakfast vorziehen. Die Challenge ist, sich darauf einzustellen und zu wissen, dass es keinen Sinn macht den chinesischen Markt erobern zu wollen. Man muss sich mit der Frage auseinandersetzen: Was können wir als Hotel? Sind wir eher ein Hotel für Familien, oder für Kulturinteressierte, oder für Skifahrer? 
Die Entwicklung des chinesischen Marktes ist derart schnell, dass wir in Europa Schwierigkeiten haben, hinterherzukommen.
Die Herausforderung an den chinesischen Reisemarkt ist somit die Diversifizierung und Segmentierung…
  
Ich würde noch ergänzen, die Einstellung auf die Geschwindigkeit der Entwicklung des Marktes. Nehmen wir beispielsweise das Thema Bezahlen: wir haben inzwischen verstanden, dass Chinesen keine Kreditkarten haben sondern UnionPay Credit Cards. Aber das ist längst wieder Schnee von gestern, inzwischen bezahlen alle per Smartphone mit Alipay und WeChat-Pay. Thema Social Media: man hat sich auf Sina Weibo als Kanal eingestellt, allerdings kommunizieren jetzt alle mittels WeChat. Die Elite fängt gerade an, davon abzugehen: momentan ist Douyin - hier als TikTok bekannt- die Nummer eins der meistgenutzten Apps. Die Entwicklung des chinesischen Marktes ist derart schnell, dass wir in Europa Schwierigkeiten haben, hinterherzukommen. Viele sagen zwar, wir müssen uns um den chinesischen Markt kümmern, es bleibt jedoch meist bei einer sehr oberflächlichen Herangehensweise. Das versuchen wir als COTRI zu ändern. 
Welches Potential sehen Sie speziell im Alpenraum? 

Ein riesiges, Hauptargument hier ist die Sauberkeit von Luft bzw. generell die Natur. Die allermeisten reichen Chinesen leben in großen Städten von 15 oder 25 Millionen Einwohnern mit extrem schlechter Luft, wenig Grünflächen, keinen Vögeln. Das Erlebnis in den Alpen ist somit die Natur und die Natur erleben. Das allein reicht schon, die Alpen sind prädestiniert dafür.  
Und wie lässt sich dies nun mit der vorher genannten Sensationslust und der Schnellatmigkeit verbinden? 
 
Durch Eventisieren. Es reicht nicht, dass man einen 20-minütigen Spaziergang an der frischen Luft anbietet, es muss dabei noch etwas passieren. Eine Gondelfahrt, Bungee Jumping, eine Schlittenfahrt oder sonst etwas.  
Sie geben somit die Empfehlung, ein Event-Unternehmen zu gründen, welches reiche Chinesen mit dem Hubschrauber zwei Wochen lang von Attraktion zu Attraktion bringt -

Zwei Wochen ist zu lang, maximal eine Woche oder noch besser, drei Tage im Anschluss an eine große Messe. 
Man fliegt somit von Sensation zu Event und zur nächsten typischen Lokalität? 

Sensation ist hier jedoch nicht zu übersetzen mit “größtes Feuerwerk der Welt” sondern eher mit “Kuh melken” oder “Südtiroler Bauernbrot backen”: Eine Bäuerin zeigt, wie man auf traditionelle Weise Brot bäckt, dabei muss das Event ähnlich einer Kochshow im Fernsehen vorbereitet sein um nicht unnötig Zeit für Ruhe- oder Backzeiten zu verlieren. Kostprobe, Foto, Diplomübergabe “Südtiroler Bauernbrot-Backexperte”, Video vom Kurs sowie Brotbackmischung fürs Nachbacken zu Hause für die Freunde. Bestenfalls ist diese Mischung zudem im Shop auf Alibaba erhältlich. 
Der Punkt ist: die Destination muss auf die Chinesen vorbereitet sein und etwas anbieten, damit sie ihr Geld ausgeben können.
Alibaba und WeChat sind im Alpenraum wohl noch wenig verbreitet, ebenso sehe ich eine Problematik beim bargeldlosen Zahlen…
 
In den Brennpunkten sind Alibaba und WeChat sehr wohl verbreitet, das ist einer der Gründe dafür, warum die chinesischen Touristen alle konzentriert in München anzutreffen sind und nicht in Augsburg. Dort akzeptiert man kein AliPay. Der Punkt ist: die Destination muss auf die Chinesen vorbereitet sein und etwas anbieten, damit sie ihr Geld ausgeben können. Viele fahren nämlich nach Hause mit Restbudget. Dafür gibt es mehrere Gründe, es gab nichts, was sie interessiert hat oder geschlossene Läden oder es gab nichts wirklich teures, was als Geschenk für den Chef geeignet war als Dankeschön, dass der Arbeitnehmer in den Urlaub fahren durfte. 
Welche Erwartungen hat der chinesische Reisegast in puncto Digitalisierung noch? 

Chinesen sind bezüglich des Zimmerpreises sehr sensibel und recherchieren endlos in Portalen bevor sie endgültig buchen. Sind sie jedoch einmal im Hotel, dann sind sie bereit, für zusätzliche Services Geld auszugeben. Liegt im Zimmer ein Spa-Programm auf mit dem Hinweis, dass Massagen mindestens 24h vorher zu buchen sind, wird das nicht funktionieren. Der Gast bleibt ja nur eine Nacht, er entscheidet sehr spontan. Sie als Hotelier müssen ihm eine App wie das WeChat-Miniprogramm geben, dass ihm in Echtzeit anzeigt, welche Masseurin gerade frei wäre und dass er zehn Prozent Rabatt erhält, wenn er in den nächsten zehn Minuten im Spa erscheint. Ob die Massage selbst dann 60 oder 80 Euro kostet, wird seine Entscheidung nicht beeinflussen. In China funktioniert ein Restaurantbesuch nach diesem Schema: unterwegs im Taxi bestelle ich mein Essen per App um nach der Ankunft im Restaurant die Speisen nach einer Minute auf dem Tisch zu haben - ich will einfach nicht so viel Zeit verschwenden dafür. Generell das Bestellen per Tablet ist in China selbstverständlicher und auch gewünschter. Für alle Entwicklungen, die das Leben bequemer machen, sind die Chinesen offener: Bezahlung im Taxi per Smartphone, Face Recognition beim Skilift oder im Hotel oder der Lebensmitteleinkauf im virtuellen Supermarkt. 
Chinesen werden niemals 105€ fürs Zimmer zahlen wenn sie es um 100€ kriegen, aber sind sie einmal da, sparen sie nicht an Zusatzleistungen.
Wie lässt sich dieser attraktive chinesische Markt für ein Hotel in Europa und im Alpenraum erfolgreich erschließen? 
 
Die Kurzantwort lautet: nicht allein! Dafür reicht bereits der Blick auf die Landkarte. Man muss sich erstens überlegen: Was habe ich als Hotel anzubieten? Was ist meine USP? Das kann sein, dass einmal jemand Berühmtes bei mir logiert hat. Und Zweitens: Mit wem kann ich das zusammen machen? Wie kann ich mich in einen regionalen Tourismusverband, in eine Initiative oder Gruppen einklinken. Viele Destinationen machen den Fehler, dass sie das Thema China alleine angehen und über den Zimmerpreis konkurrieren wollen. Ein Beispiel dazu: das Standardzimmer in meinem Hotel kostet 100€, die Junior Suite kostet 180. Der chinesische Gast bucht das Standardzimmer, beim Check-In biete ich ihm für 50€ ein Upgrade auf die Junior Suite an. Die meisten werden zuschlagen mit folgender Überlegung: “Ich erinnere mich, der ursprüngliche Preise war 180€, ich spare 30€, clever Shopper. Und außerdem, würde ich verneinen, werden die von mir denken, dass ich arm wäre!” Chinesen werden niemals 105€ fürs Zimmer zahlen wenn sie es um 100€ kriegen, aber sind sie einmal da, sparen sie nicht an Zusatzleistungen. 
Welche Hilfe/Leistungen bieten Sie (COTRI) Touristikern in Europa konkret?
 
Wir bieten einerseits Trainings für einzelne Betriebe an, die wir zusammen mit der Hong Kong Polytechnic University, der wichtigsten Universität für Hotelwesen in Asien, entwickelt haben. Die acht Einheiten zu je 90 Minuten können online absolviert werden und sind sehr praktisch orientiert mit Best Practice- Beispielen. Zusätzlich bieten wir auch Einsatzmarktforschung und Netnografie an, das heißt, worüber sprechen die Chinesen auf den Plattformen und Communities. Das ist sicherlich die ungefilterste Stimme, die eine Destination erhalten kann. Weitere Angebote umfassen die Strategieentwicklung: welche Messen sind relevant, welche Key-Opinion-Leader sollte man einladen, wie eine Destination kommunizieren. 
Sie unterstützen somit auch die Produktentwicklung?

Ja, das ist das A und O. Die Standardanfrage lautet: “Helfen Sie uns beim Marketing, ich möchte Distributionspartner finden.” Meine Antwort darauf lautet:” Lassen Sie uns zuallererst Ihr Produkt ansehen.” Bleiben wir beim Beispiel Ihrer Hubschrauber-Touren: Ich würde Ihnen empfehlen, möglichst viel “bragging power” zu liefern. Dokumentieren Sie die Touren und zwar mit dem Gast im Bild, dieser muss zu Hause beweisen können, dass er alles selbst miterlebt hat, da nützt ihm das Schön-Wetter-Video des Rundflugs nichts. Übergeben Sie ein Teilnahmediplom, bieten Sie ein möglichst diverses Spektrum an Möglichkeiten an: anstatt drei Rundflüge über drei Städte, einmal Stadt, einmal Landschaft und einmal den spektakulärsten Wasserfall der Region, am besten mit drei verschiedenen Hubschraubertypen. 
Meistens wird detailliert überlegt, welchen Kommunikations-Kanal benutzt man für die Message, allerdings wird viel zu kurz überlegt “Welche Message will ich denn überhaupt vermitteln?”.
Kümmern Sie sich auch um das Marketing und die Ansprache?
 
Wir stellen Kontakte her, entwickeln Stories, helfen bei Produktentwicklung und Strategie, die Umsetzung liegt bei anderen. Je nach Budget und Ziel können wir Empfehlungen zum Beispiel für Social-Media-Marketing-Agenturen geben. Meistens wird detailliert überlegt, welchen Kanal benutzt man für die Message, allerdings wird viel zu kurz überlegt “Welche Message will ich denn überhaupt vermitteln?”. In der Regel kann man sagen, die Message, die ich meinen westlichen Gäste rüberbringe, ist nicht die richtige für den chinesischen Markt. 
Empfehlen Sie als Dozent Ihren Studenten eine Chinareise?

Auf jeden Fall! Allein schon deshalb, um sich selbst besser kennenzulernen und zu erfahren, wie viel von der eigenen Persönlichkeit sozial programmiert ist. In China stößt man auf eine Kultur, in der Pünktlichkeit für Dummheit betrachtet wird, weil man keine Prioritäten setzen kann und in der ein “Dankeschön” unter Freunden Distanz schaffen kann. 
Zu Teil eins des Interviews: hier klicken.